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R.O.M.
Regionalgeschichte des Oberen Mittelrheintals
von Prof. Dr. Dieter Kramer

3. Der Krieg, der Mais für die libanesischen Hühner und der Garten

Ukraine, Nato, Brunnengemeinschaften, Boppard, Putin, Erdogan, Kulturanthropologie, China4 min read

Eine ins Rechtsrheinische geflüchtete Familie vom linkrheinischen Ufer gerät 1794, als die französischen Revolutionstruppen Mainz besetzten, in harte politische Diskussionen mit heftigen Auswüchsen. Ein hinzugekommener Geheimrat ist schon beleidigt abgereist. In der geflüchteten Familie selbst gibt es auch sehr unter schiedliche Auffassungen. Um die Familie, die ihr Leben neu organisieren muss, nicht durch Streit auseinanderzubringen, wird vorgeschlagen, die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten zu verbringen. Da erweist sich der Vorteil des Erzählens: Alle hören zu, es gibt in der festgefahrenen politischen Situation keinen neuen Streit. (Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. (Goethe Novellen. München 1923f. dtv 20, S. 7-112)

Die Sympathie für die Ukraine ist selbstverständlich, aber sie ist belastet von Hypotheken: Die NATO-Osterweiterung nach 1990 war auch im Westen nicht unumstritten. Wie andere, warnte Helmut Schmidt 1993 nachdrücklich davor. (Karlauf, 2022) Dass in der Ukraine Veränderungen in Richtung auf die EU-Standards stattfinden müssen, ist unbestritten. Das Verbot der russischen Sprache in der Ukraine im Juli 2022 weist angesichts der Sprachenvielfalt in die entgegengesetzte Richtung (einst wurde hierzulande heftig kritisiert, als in Quebec, dem frankophonen Teil von Kanada, vorgeschrieben wurde, im öffentlichen Raum nur noch französischsprachige Bezeichnungen zu verwenden). Manche behaupten, es gebe einen Vertrauensverlust der USA bezogen auf die Ukraine. Über manche Handlungen der ukrainischen Regierung wundert man sich, so über den Wechsel in zwei zentralen Führungspositionen, so über die hektische Suche nach Personen, die Russland unterstützen, verbunden mit Ausgehverboten in einigen Städten. Von der „Asov“-Brigade wollen wir gar nicht erst reden.

Und 2022 ist der Wunsch der Ukraine und der skandinavischen Staaten zum NATO-Beitritt zwar als Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine nachvollziehbar, erschwert aber Verhandlungen.

Die aktuelle Situation im Ukraine-Krieg ist festgefahren und wirkt ausweglos, zu erwarten scheint nur eine Fortsetzung des mörderischen, unbegrenzt steigerungsfähigen Krieges mit allen Gefahren. Ein „substanzielles Gesprächsangebot“ und die Suche nach einer „neuen europäischen Sicherheitsordnung“ wird so immer schwieriger.

Es gibt viele ausweglos wirkende Situationen, über die man endlos reden kann. Früher wurden satzungsgemäß in der Bopparder Brunnengemeinschaft die guten Umgangsformen gepflegt: "Es ist löblich und billig, auch Gott sehr gefällig, wenn Bürger einer Nachbarschaft sich zuweilen versamlen, in bester Harmonie und in Ehren als Freunde sich miteinander lustig machen, dabey sich einander wie Brüder lieben, und einer des andern kleine Fehler übertragen, (nicht nachtragen), keiner den andern verspotten, welches manchesmahl den größten Streit erreget, sich einander mit Rath an die Hand gehen, sich einander in der Noth beystehen." So heißt es um 1800 im Nachbarschaftsbuch der Obermärkter Nachbarschaft in Boppard. Dass aus solchen Gesprächen die anderswo kritisch „Klüngel“ genannten Vernetzungen entstehen, ist nachvollziehbar, aber ohne informelle Vernetzung funktioniert keine Verwaltung, kein Verein und kein Unternehmen. Die Regeln erinnern an das, was heute die Trainer von Fussballmannschaften leisten müssen, um die Spieler für das gemeinsame Ziel zu konditionieren.

In den Brunnengemeinschaften weiss man, was bei unentwickelter Diskussionskultur geschehen kann. Im nächtlichen Stress fallen oft genug von verschiedenen Seiten beleidigende Worte, da muss man darauf vertrauen, dass wie der Berliner Schriftsteller Wippchen tröstend sagt, „der Zahn der Zeit schon über manche Wunden Gras wachsen ließ“.

Und klug kann es auch sein,Voltaire hat uns am Schluss seines Romans „Candide“ einen anderen Hinweis gegeben: Die Helden der Geschichte, die vergeblich nach Beweisen für die „Beste aller Welten“ gesucht hatten, werden ermahnt: „Wohl gesprochen“, erwiderte Candide. „Nun aber müssen wir unsern Garten bestellen.“ Ähnlich formuliert ein arabischer Autor: „Draußen hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun liegt ein Acker. Wir treffen uns dort.“ (Rumi, zitiert in: Fischer u.a.: Brücken in die Zukunft 2001, 235). die Diskussion abzubrechen, wenn man den Eindruck hat, sie bringt immer mehr Konflikte. Dann lieber Geschichten erzählen.

Da muss man dann aber damit rechnen, dass nicht alle mit hinausgehen, weil sie das Interesse am Garten verloren haben.

Im Ukraine-Krieg gibt es derzeit keine Gesprächsebene. Beide Seiten bleiben bei ihren Maximalforderungen. Mit Mühe wurde unter Vermittlung von Erdogan erreicht, dass Getreidefrachter aus der Ukraine auslaufen können. Der erste brachte angeblich Mais in den Libanon, wo er eigentlich, sagt man, nur als Hühnerfutter verwendet werden kann. Immerhin, weitere Frachter folgen und werden sehnsüchtig erwartet, um Hunger zu bekämpfen. Nebenbei: Wieso kam es eigentlich dazu, dass die halbe Welt vom ukrainischen Getreide abhängt, weil die lokalen afrikanischen und anderen Subsistenzlandwirtschaften zugunsten des Anbaus von Cash-Crop (Handelsgütern für die reichen Länder) aufgegeben haben? (ich muss freilich bekennen: Die Kaiserschoten, die ich und Susanne so gerne essen, kommen aus Peru, Kenia, Guatemala, Ägypten oder anderen Ländern, in denen gehungert wird: Ich gönne sie mir und denke, der Anbau dieser Früchte ist eine der wenigen Einkommensquellen in diesen Ländern. Überall Widersprüche, und siehe, wir leben, so ähnlich lautete einmal das Motto eines Evangelischen Kirchentages)

Natürlich haben Putin und Erdogan jeweils eigene Interessen, und die des NATO-Mitglieds Türkei gefallen uns nicht. Die Anti-Putin-Front ist ohnehin nicht so einheitlich, wie wir immer hoffen (Frehse, Lea; Yang, Xifan: Putin? Gar nicht so übel. Der Westen möchte Russland wegen des Ukraine-Krieges diplomatisch isolieren. Doch viele Länder denken überhaupt nicht daran, dabei mitzumachen. In: Die Zeit v. 25.05.2022, S. 6; Karlauf, Thomas: Was würde Helmut Schmidt dazu sagen? Die Zeit v.25.05.2022, S. 57).

Dennoch finde ich es gut, wenn immer mehr Frachter hin und her fahren. Vielleicht kann dank des Futters für die libanesischen Hühner doch eine Gesprächsebene gefunden werden. Der Papst will ja auch in die Ukraine. Wenn man die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch bringen (vielleicht sogar zwingen) will, sind solche Erfahrungen wie die mit den Getreideschiffen wichtig: Etwas geht doch. Aber auch das braucht wie im gewöhnlichen Leben Zeit, die man sich geben muss.

Mehr als ein Waffenstillstand wird vorerst nicht drin sein. Manchmal halten Waffenstillstände sehr lange. Einen richtigen deutschen Friedensvertrag haben wir, meine ich, ja auch immer noch nicht. Und unter der Decke eines solchen Waffenstillstands kann dann, wenn es gar nicht anders geht, in einem neuen Kalten Krieg Putin immer noch seine Ural-altaische Vision weiterverfolgen, und die USA können weiter in ihrer Sphäre imperiale Lebensweise und zerstörerische kapitalistische Wachstumsgesellschaft verbreiten. Und in der so gewonnenen Zeit können vielleicht unter dem Leidensdruck der Klimakrise Vereinbarungen zur Bewältigung der immer schlimmer werdenden Krisen entstehen.

Aber was ist mit China und mit der realen Gefahr, dass Trump und Orban die „westliche Wertegemeinschaft“ zerstören?

© Dieter Kramer 10.8.2022

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